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„Das Mittelalter ist besser als sein Ruf.“ Viele Gelehrte der Renaissance betrachteten das Mittelalter als Epoche zwischen zwei Hochkulturen, ihrer Zeit und der Antike. Deshalb wählten sie diese Bezeichnung „Zeitalter in der Mitte“, „Mittelalter“. Ihrer Ansicht nach war es eine Zeit des Niedergangs. Erst die Renaissance brachte eine „Wiedergeburt“ der kulturell hochstehenden Geschichte.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass gerade im Mittelalter wichtige Schritte gesetzt wurden, die heute noch unsere Weltanschauung prägen.

Dazu möchte ich drei Aspekte hervorheben: 

  1. Das Verhältnis von Wissenschaft und Religion
  2. Die Abgrenzung des weltlichen und des geistlichen Bereichs in der Öffentlichkeit
  3. Die persönliche Gottesbeziehung als Motor für das gesellschaftliche Engagement

 

Das Mittelalter erstreckt sich vom fünften bis zum fünfzehnten Jahrhundert. Allgemein wird die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers durch den germanischen Offizier Odoaker und die Schließung der platonischen Akademie in Athen als Ende der Antike angesetzt. Die Völkerwanderung und das Aufstreben der germanischen Stämme prägten besonders das westliche Europa, weil das Weströmische Reich unterging. 

Mit dem Zerfall der politischen und religiösen Einheit Westeuropas im 16. Jh. und dem Beginn der Renaissance wird das Ende des Mittelalters angesetzt.

Die kulturelle Leistung des Mittelalters bestand in der Einheit von Antike, Christentum und Germanentum. Diese Kulturen standen nun miteinander in Beziehung und schufen ein Fundament der europäischen Gesellschaft, das heute noch wirksam ist.

Die Franken nahmen als einziger germanischer Stamm das Christentum an. Die Goten dagegen hatten sich dem Arianismus zugewandt, der Jesus als Menschen, nicht als Gottessohn betrachtete. Die Franken wurden katholisch und übernahmen den Schutz Roms gegen andere germanisch Völker. Der Merowinger Chlodwech ließ sich 496 als erster Germanenfürst taufen. Einer seiner Nachfolger, der Karolinger Karl der Große, erhielt die Kaiserkrone aus der Hand des Papstes am 25. Dezember 800 in Rom. 

Damit war das Erbe Westroms in die Hand der Germanen übergegangen. Sie nutzten das Wissen der Antike, bauten Klöster, errichteten Bibliotheken und Schulen in diesen Institutionen. Die Baukunst der romanischen Kirchen symbolisiert die Sicherheit, welche die christliche Religion im Wirrwarr der Völkerwanderung bieten konnte. Das Christentum integrierte antike und germanische Bräuche, so dass sie gemeinsam bestehen konnten. Die Kirche war Garant einer Rechtssicherheit, die sie aus der Antike in das Mittelalter durch ihre Gelehrten und ihre Bibliotheken vermittelte. Für die Fürsten waren die Klöster willkommene Orte der Bildung und des religiösen Lebens. Deshalb finanzierten sie Klostergründungen und nutzten sie als administrative Zentren. Dort wurden wichtige Dokumente verfasst und archiviert, weil man sich auf die Disziplin der gebildeten Mönche verlassen konnte. Die Burgherren wären dazu nicht geeignet gewesen. 

Als Beispiel sei das Schottenstift genannt, das 1155 vom Babenbergerherzog Heinrich II. Jasomirgott gegründet wurde. Heinrich machte Österreich unabhängig von Bayern, das er kurzzeitig regiert hatte. Er gründete dazu eine neue Hauptstadt, Wien. Dorthin lud er aus Regensburg iroschottische Mönche ein und stiftete das heute älteste Kloster Wiens, das Schottenstift, das seit dieser Zeit ununterbrochen besteht. Der Vater Heinrichs war der Hl. Leopold. Er hatte die Residenzhauptstadt nach Klosterneuburg verlegt und das Kloster mit der Burg verbunden. Sein Sohn gelang ein besonderer „Schachzug“: Er heiratete in Konstantinopel die Nichte des oströmischen Kaisers. Theodora ging mit ihm nach Wien und unterstützte mit ihrer Mitgift die Neugründung des Klosters.  Heinrich konnte seine Familienlinie ebenso wie seine Gemahlin auf kaiserlichen Ursprung zurückführen, weil seine Mutter Agnes Tochter des römischen Kaisers Heinrich IV. war.

Die Mönche arbeiteten nun für die Fürsten, aber sie verfolgten in erster Linie ein geistliches Ziel: Sie suchen Gott auf verschiedene Weise – im Gebet, in der Lektüre der Hl. Schriften, in der Erforschung der Natur. Dazu entwickelten sie Werkzeuge, die eine Grundlage für die späteren Wissenschaften wurden. Sie verfassten Grammatiken, Sprachlehrbücher, um Latein, Griechisch, Hebräisch zu lernen und damit die Bibel im Original lesen zu können. Damit legten sie eine Grundlage für die Sprachwissenschaften. Die Mönche beobachteten die Sterne, betrieben Astronomie, so dass sie die kirchlichen Feste berechnen konnten. Sie pflanzten Heilkräuter, beschäftigten sich mit der Stärkung der menschlichen Gesundheit. Das wurde zum Ausgangspunkt für die Naturwissenschaften. Als die Mönche in der Gottsuche fortschritten, wollten sie Gott feierlich loben. Sie komponierten Gesänge und erfanden die ersten „Noten“, die Neumen, um sie anderen Klöstern und die nächsten Generationen zu überliefern. Außerdem bauten sie Instrumente. Aus diesem Wissen entstanden die Musikwissenschaften. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die furchtlose Erforschung der Welt in den Erkenntnissen der Bibel wurzelt. Während die Naturvölker überzeugt sind, dass die Welt von Geistern bewohnt ist, die besänftigt werden müssen, hat das Christentum gemeinsam mit dem Judentum eine andere Perspektive: Die Materie ist von Gott geschaffen. Gott und Schöpfung sind nicht dasselbe. Die Schöpfung war einmal und wird einmal nicht mehr sein. Gleich im ersten Kapitel der Bibel wird dieses Prinzip bildhaft und eindrücklich dargestellt: Gott setzt die Sterne an das Himmelsgewölbe, wie ein Elektriker Lampen an die Decke schraubt. Die Sterne sind keine Götter oder göttlich beseelte Körper, wie die Babylonier noch glaubten. Deshalb war Astrologie kein Thema für Juden und Christen, während sie mit großem Interesse Astronomie, die Vermessung der Sternenbewegung betrieben.

Das Selbstverständnis von Religion und Naturwissenschaften ist somit eng miteinander verbunden, wie uns die Tradition der Klöster in Europa beweist.

An den Klöstern zeigt sich das zweite Thema unserer Erörterung: In welchem Verhältnis standen Politik und Kirche zueinander? Die Germanen hatten wie viele andere Völker eine Vision vom sakralen Königtum. Der König war für sie gleichzeitig Politiker und Priester. Ihre Fürsten erkannten jedoch das Potential des Christentums gegenüber ihren angestammten heidnischen Kulten. Die Kirche brachte ihnen nicht nur ein neues Gottesbild, sondern auch die Kultur und das Wissen der Antike. So stifteten die germanischen Fürsten Klöster und Domkirchen. Nach ihrem Verständnis entließen sie diese religiösen Institutionen nicht in die Unabhängigkeit, sondern betrachteten sich weiter für sie verantwortlich. Sie setzten Pfarrer, Bischöfe und Äbte ein. Vielerorts wurden reich dotierte kirchliche Institution zu Geldgebern für Adelige, die ihre Söhne zu Äbten und Bischöfen machten. Konnte sich das die Kirche leisten? Drohte hier keine Verweltlichung, wenn durch die Verwandten der Herrscher Machtinteressen in das Leben der Kirche einflossen? Diese Gefahr war den Geistlichen und manchen wachen, gläubigen Adeligen schmerzlich bewusst. Wilhelm von Aquitanien wollte deshalb ein Kloster gründen, das ein rein geistliches Leben führen konnte, abseits von Politik und Herrscherinteressen. Er stiftete das Kloster Cluny in Burgund, etwa 100 km westlich der heutigen Schweizer Grenze in Frankreich. Die Mönche lebten dort seit dem 10. Jh. nach der Regel des Heiligen Benedikt, pflegten das Studium der heiligen Schriften, das gemeinsame Chorgebet. Sie arbeiteten in den klostereigenen Betrieben. Unabhängig von adeligen Familien suchten sie das Ideal zu verwirklichen, dass vierhundert Jahre davor der Hl. Benedikt für die Abtei Montecassino aufgeschrieben hatte. Cluny wurde innerhalb von 2 Jahrhunderten zum Vorbild für 3.000 andere Klöster, die sich ein genuin monastisches Leben anstrebten. Die Mönche initiierten eine Neubesinnung auf die eigenen geistlichen Werte in der Kirche. Sie wollten das spirituelle Leben vertiefen und sich nicht von der Politik und einem verweltlichten Stil ablenken lassen. 

Ein Papst, der selbst als einfacher Priester einen klösterlichen Lebensstil kennen gelernt hatte, wollte die Kirche nun auch politisch aus der Umklammerung des Adels lösen: Gregor VII. stritt mit Heinrich IV. (dem Großvater des Gründers des Schottenstifts Heinrich Jasomirgott) über das richtige Verhältnis von Kirche und Staat. Er konnte nicht mehr akzeptieren, dass der König die Bischöfe wie Beamte einsetzte. Für das Königtum im Römischen Reich deutscher Nation waren die Bischöfe wichtige, zuverlässige Stützen. Otto der Große hatte damit begonnen, Bischöfe als Fürsten einzusetzen, weil seine Verwandten ihn stürzen wollten. Auf die Bischöfe konnte er sich verlassen, weil sie keine dynastischen Ambitionen hatten. Dieses System der Reichskirche stellte Papst Gregor VII. in Frage. Er ging darüber hinaus und forderte, dass der Papst über dem Kaiser stehe und die Macht habe, ihn abzusetzen. Der Investiturstreit gipfelte im Canossagang von Heinrich IV., der sprichwörtlich geworden ist. Er wanderte mit Frau und Kind auf dem beschwerlichen Weg über die Alpen zur Burg Canossa, wo ihn der Papst drei Tage bis zu Einlass warten ließ. Heinrich wurde vom Papst rehabilitiert und der Kirchenbann gegen ihn aufgehoben. Damit konnte er wieder König sein. Die Frage der Einsetzung der Bischöfe war trotzdem nicht endgültig geklärt. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten die Kaiser von Österreich das Recht, Bischöfe zu bestimmen und sogar die Papstwahl zu beeinspruchen. In dieser Entwicklung stellte sich der Anspruch der Kirche, vom Staat getrennt zu sein, eindeutig heraus. Das gehört zum Wesen des Christentums, das immer wieder gegen weltliche Interessen verteidigt werden muss. Im Unterschied zur Vorstellung anderer, heute weitverbreiteter Religionen sind der weltliche und geistliche Bereich der Gesellschaft nach christlicher Vorstellung voneinander getrennt, aber sie arbeiten zusammen, wie das Zweite Vatikanische Konzil feststellte: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom. Beide aber dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen. Diesen Dienst können beide zum Wohl aller umso wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen.“ (GS 76)

Das Mittelalter legte durch sein Ringen um das richtige Verhältnis von Kirche und Reich die Grundlage für das moderne Verständnis der Religion in der Gesellschaft. Religion wird vom modernen Staat als Teil des gesellschaftlichen Lebens akzeptiert. Der Staat fördert sogar die Religionen, wenn sie den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken und den einzelnen Menschen inneren Halt geben. Dadurch profitiert jedes staatliche Gebilde.

Gerade diese Stärkung des inneren Menschen war das Ziel der spirituellen Entwicklung des Mittelalters. Das Mönchtum spielte dabei eine wichtige Rolle. Iroschottische und angelsächsische Mönche kamen auf das Festland, um den christlichen Glauben zu festigen. Die Taufen ganzer Völker war vielfach ein oberflächliches Phänomen geblieben, so dass heidnische Praktiken unter den neuen Christen nichts Ungewöhnliches waren. Es gehört zu den Errungenschaften des Mittelalters, dass der Hexenglaube der Antike und des Germanentums in den Hintergrund gedrängt oder gänzlich verdrängt wurde. Papst Gregor VII. schrieb im 11. Jh. an König Harald von Dänemark, als dort immer noch nach der Christianisierung der Hexenglaube gepflegt wurde: „Glaubt nicht, ihr dürftet euch gegen Frauen versündigen“ (Hesemann, Dunkelmänner, 175). Erst an der Wende zum 15. Jh., der beginnenden Neuzeit gewann der heidnische Hexenglaube wieder breiten Zuspruch im Volk, besonders im Alpenraum. Im Auftrag der Päpste des 16. Jh. setzte sich die Römische Inquisition vehement gegen den Aberglauben ein und befreite angeklagte Männer und Frauen, die von weltlichen Gerichten und manchen ungebildeten Geistlichen verurteilt worden waren. 

Die Kirche suchte durch Bildung und Förderung von geistlichen Initiativen das religiöse Leben in den verschiedenen Völkern Europas zu fördern. Die jungen Orden der Augustiner Chorherren, Zisterzienser und Franziskaner brachten in ihrer Vielfalt neue Akzente in das religiöse Leben ein. Der Hl. Franziskus legte mit seiner bewusst gelebten Armut ein Zeugnis gegen den Missbrauch geistlicher Gewalt ab. Er stammte aus einer reichen Kaufmannsfamilie. In einer Vision hörte er die Stimme Gottes, er solle die Kirche wieder aufbauen. Zuerst meinte er, dass damit eine verfallene Kapelle gemeint war. Später erkannte er, dass er durch die Bewegung des einfachen, gottverbundenen Lebens tausende junge Leute motivierte, Christus nachzufolgen. Die neuen geistlichen Bewegungen waren nicht mehr wie die alten Klöster in ländlichen Gebieten vertreten, sondern prägten die Gesellschaft der aufstrebenden Städte. Dort übernahmen sie die Seelsorge in unterschiedlichen Bereichen. Sie lebten mit den einfachen Menschen und arbeiteten an Universitäten. Diese neuen, wissenschaftlichen Institutionen betrachteten sich erst dann als vollständig, wenn sie die sog. Sieben Freien Künste durch Theologie, Jurisprudenz und Medizin ergänzten. Theologie ist bis heute ein fester Bestandteil des wissenschaftlichen Kanons einer Universität. 

Die Orden wurden gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft gegründet. Sie erkannten die Nöte der Menschen. Aus der persönlichen Beziehung zu Christus wuchs das Verlangen, den Menschen zu helfen und ihnen in Armut und Krankheit beizustehen. Der Glaube, der im Inneren des Menschen wirksam ist, zeigt seine Kraft nach außen, wenn er sich in Hilfsbereitschaft äußert. 

Der neue Impuls des geistlichen Lebens zeigte sich auffällig in der Architektur. Nach den romanischen Basiliken, die sich am antiken Vorbild der Baukunst orientierten und Stabilität in der Völkerwanderung symbolisierten, wurden die beeindruckenden gotischen Kirchenbauten zu Wegweisern nach oben. Ihre spitz zulaufenden Fensterbögen und die hohen Türme weisen bis heute in den Himmel. Sie richten den Blick der Menschen zu Gott - nach oben und nach innen im Menschen.

Wir haben uns am Anfang gefragt, ob das Mittelalter für den Aufbau unserer modernen Gesellschaft eine Bedeutung hat. Aus der geschichtlichen Entwicklung Europas konnten wir erkennen, dass wesentliche Grundsätze unseres heutigen Denkens ihre Wurzeln im Mittelalter haben. Sie betreffen das Verhältnis von Wissenschaft und Religion, Staat und Kirche und die persönliche spirituelle Prägung des Menschen.